Gute Nacht

Und  da war noch dieser Zeitungsausträger, der nicht zu den Menschen gehört, die leise und rücksichtsvoll ihren Job erledigen, zumal um 2 Uhr 30 in der Nacht, wenn viele ihr Schlafzimmerfenster geöffnet halten, weil sie die kühle Nachtluft so mögen. Nein, er ist gerade in Casablanca, Istanbul oder Tunis, am großen Familientisch und führt das Wort in seiner Sprache, ungezwungen, leidenschaftlich und so laut, damit auch der schwerhörige Großvater auf der anderen Tischseite alles versteht. Ich stehe erhöht am Fenster und versuche eine Kontaktaufnahme über Luftlinie 10 m, aber der Mensch ist unerreichbar, weit, weit weg, die Lauscher unter Kopfhörern versteckt. Wortfolge und Lautstärke nehmen nicht ab, während er die Zeitung in den Schlitz schiebt oder sein Fahrrad samt Anhänger auf die andere Straßenseite wuchtet.
Gerne würde ich das ein oder andere verstehen, ihm zusprechen, mit ihm diskutieren, vielleicht einen Rat geben. Der Zweitjob macht ihm zu schaffen, das Kind bringt schlechte Noten heim, die Schwester will heiraten, das Heimweh. Stelle mir vor, es gehen mehr und mehr Fenster auf, alle reden durch- und miteinander, interessieren sich, mischen sich ein, an Schlaf ist lange nicht zu denken … schön wärs, doch der Traum ist schnell zu Ende, der nimmermüde Zeitungsausträger hat sich entfernt, seine Stimme hält jetzt andere wach, ich suche die Ruhe, die er wohl nie findet – nicht einmal um 2  Uhr 30 in der Nacht.